Das Urteil im Prozess gegen Sebastian Kurz und seinen Ex-Kabinettschef Bernhard Bonelli wegen Falschaussagen im Ibiza-U-Ausschuss lässt die Wogen auf Social Media hochgehen. Man erkennt dies auf Twitter beim Hashtag #Kurzprozess, wobei man – um zu abstrahieren und sich nicht mitreissen zu lassen – an Mattias Desmets Ausführungen zu Mass Formation (Psychosis) während Corona denken sollte. Übersetzt mit Massen-Bildung weist es auf ein Gruppenphänomen hin, das in einer Gesellschaft frei flottierende Ängste benutzt und verstärkt. Auch wer keine Ängste aus der Kindheit mitbringt oder beruflich und privat aus der Zeit vor der Corona-Spaltung, ist meist dafür empfänglich. Es gibt schliesslich genug „Krisen“ rundum, die ständig beschworen werden und bei denen Mass Formation davon ablenkt, nach gezielter Destabilisierung zu fragen. Das Muster erkennen wir bei Kurz darin, dass eine Seite meint, alle Probleme seien gelöst, wenn er nicht mehr in die Politik zurückkehren kann. Ob politische Tätigkeit unter diesen Umständen überhaupt erstrebenswert ist, spielt als rationale Überlegung keine Rolle. Die andere Seite setzt darauf, „linke Justiz„, verkörpert durch die Korruptionsstaatsanwaltschaft und Ministerin Alma Zadic, abzuschaffen bzw. zu ersetzen. Hier werden alle Hinweise auf die Vorgeschichte und auf Zusammenhänge ignoriert, selbst wenn auch mal „linke Politiker“ ins Visier geraten können. Es sollte nicht verwundern, dass auch Experten für die Psyche und juristisch oder journalistisch qualifizierte Personen in die Falle der Irrationalität gehen. Zu einem grossen Teil ist dies stets wiederholten Desinformationen geschuldet, die Narrative erschaffen; so gehirngewaschen schiebt sich bei den meisten Menschen ein Bild vor ihnen präsentierte Fakten, die diesem Trugbild widersprechen.
Besonders wirksam ist es, wenn bei Archetypen abgeknüpft werden kann, siehe gerade der Versuch, Julia Nawalnaja zur „berechnenden Frau, die Männer benutzt und austrickst“ zu stilisieren. Wäre Alexej Nawalny nicht in einem russischen Straflager gestorben, sondern in Russland politisch aktiv, während Frau und Kinder im Ausland in Sicherheit sind, wäre dieses Szenario denkbar: Nawalnaja wird als untreu und verschlagen hingestellt, während eine Kreml-Agentin im Windschatten dieser Verleumdungen als Honigfalle für Nawalny agiert. Kurz wurde fraglos als Projektionsfläche aufgebaut mit Wolfgang Schüssel und Michael Spindelegger als Mentoren; seine eher banalen Aussagen wurden mit „jüngster Außenminister“ (nach der Wahl 2013) und dann „jüngster Kanzler“ (ab Dezember 2017) vermarktet. Der Kurz-Prozess selbst hatte nie besonders viel Substanz, sodass man dazu nur wenig sagen muss. Vor allem wirft er die Frage auf, womit sich die WKStA beschäftigt und womit nicht; zum Beispiel gab es noch keine einzige Einvernahme in der Causa Signa. Was bei Kurz von WKStA und Richter beanstandet wurde, hätte anderswo ebenfalls eine Rolle spielen müssen, z.B. bei Eurofighter. Doch es geht noch viel tiefer, denn Kurz warf man vor, er wollte Aufsichtsräte der ÖBAG bestimmen, die der Finanzminister nominierte. Zugleich deckt die WKStA und vor ihr Kurz-Richter Michael Radasztics als Eurofighter-Staatsanwalt, dass eine Weisung von Verteidigungsminister Norbert Darabos zu Verhandlungen mit Eurofighter im Interesse von Alfred Gusenbauer ausgehebelt wurde. Illegale Befehle waren im BMLV die Regel, was 2011 auch die sog. Entacher-Berufungskommission feststellte und für WKStA, Radasztics, Parlament und Medien relevant sein hätte müssen, es aber nicht war.
Rechtsstaat? Warum der Kurz-Prozess reine Show war weiterlesen